13 Oktober, 2006

Verführung zur Aufmerksamkeit

„Gestern Abend war bei der Tante eine kleine Gesellschaft. Ich wusste, Cordelia würde ihr Strickzeug hervorholen. Darin hatte ich ein kleines Billett versteckt. Sie ließ es fallen, hob es auf, wurde bewegt, sehnsuchtsvoll. So muss man stets die Situation zu Hilfe nehmen. Es ist unglaublich, welche Vorteile man davon haben kann. Ein an und für sich unbedeutendes Billett wird, unter solchen Umständen gelesen, für sie unendlich bedeutsam. Mich konnte sie nicht sprechen; ich hatte es so eingerichtet, dass ich eine Dame nach Hause begleiten musste. Sie musste sich also bis heute gedulden. Das ist stets gut, um den Eindruck sich noch tiefer in ihre Seele einbohren zu lassen. Immer hat es den Anschein, als sei ich es, der ihr eine Aufmerksamkeit erweist; der Vorteil, den ich habe, ist der, dass ich überall in ihren Gedanken angebracht werde, überall sie überrasche.”

Aus: Sören Kierkegaard: Tagebuch des Verführers. Aus dem Dänischen von Heinrich Fauteck. Deutscher Taschenbuch Verlag 12463. Seite 129.

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