31 Oktober, 2012

Klare Linie

Über die „inzestiöse” Beziehung von Comics und Film wurde viel geschrieben – für mich berühren sich die beiden Medien nicht wesentlich; was die Zeichnung kann, hat mit den Möglichkeiten der in Bewegung versetzten Fotografie wenig gemein, von der Tonebene ganz zu schweigen. Trotzdem will ich an dieser Stelle ein paar jüngere Autorencomics empfehlen, die in ihrer erzählerischen Souveränität vielleicht gerade für Filmemacher interessant sind. Für Kenner sind die folgenden Titel bestimmt keine Überraschung, aber vielleicht freut sich der eine oder andere „Ignorant”.

Baru
AUTOROUTE DU SOLEIL (1995)

Ein Paukenschlag für den französischen Comic. Die Geschichte einer Flucht wird zur inneren Reise (und Reifung) eines ungehobelten Teenagers, der alles andere als ein Held, aber ein überaus lebendiges Wesen ist. Ein Comic, der sich ganz selbstverständlich und flüssig lesen lässt, auch weil Baru situativ, körpersprachlich und in der Entwicklung der Figuren einem unangestrengtem Realismus verpflichtet ist, ohne seinen Strich deshalb auf „Objektivität” zu bürsten. Ungewöhnlich war vor allem die Verortung in der politischen Gegenwart: rechtsradikale Gewalt (der Grund für die Flucht), Rassismus und die französische Migrationserfahrung spielen eine wichtige Rolle, werden aber glücklicherweise nie zu einem pädagogischen Programm.  



Rutu Modan
EXIT WOUNDS (2007)

Auch Rutu Modan erzählt politische Gegenwart, aber ihre Handlung ist verwickelter, ihre Charaktere sind neurotischer; mit großer Präzision navigiert sie durch das Minenfeld isralischer Befindlichkeiten. Zeichnerisch verfolgt Modan eine modernisierte Ligne claire, man spürt, dass der Computer hier eine gewisse Rolle spielt, nicht im Sinne von modischen Mätzchen, sondern als Werkzeug der Reduktion. 




David Mazzucchelli
ASTERIOS POLYP (2011)

Ein virtuoser, stilistisch polyphoner Meta-Comic, der über dem Spiel aber nie die Neugier des Lesers auf den Fortgang der Handlung vernachlässigt. Großartig.  




Bastien Vivès
POLINA (2011)

Vivès wird zu Recht als Wunder gefeiert. Es gibt wenige, die in der Präzision des Ausdrucks an ihn heranreichen. Aus meiner Sicht ist POLINA der bisherige Höhepunkt seines Schaffens: in der Ökonomie, der Eleganz der Zeichnung, der Fähigkeit, Menschen und ihre Bewegungen zu erfassen – und sich in sie einzufühlen.



Blain & Lanzac
QUAI D'ORSAY (2012)

Ein „Schlüsselroman” über den französischen Aussenminister Dominique de Villepin (der hier Alexandre Taillard de Vorms heißt) und der diplomatisch heissen Zeit vor dem zweiten amerikanischen Irakkrieg. Schreiend komisch und ganz offensichtlich erfahrungsgesättigt erzählen die Autoren vom Innenleben der Macht. Trotz aller Überzeichnung gewinnt man erstaunliche Einsichten in den Apparat, in die Psychodynamik der Diplomatie.



Augenblick

Im Rahmen des Festivals „Augenblick” in Straßburg wird es eine „Hommage à Christoph Hochhäusler” geben, zu sehen ist das DREILEBEN-Projekt (mit meinem Beitrag EINE MINUTE DUNKEL, 2011) sowie FALSCHER BEKENNER (2005), mein zweiter Spielfilm. Am 19.11.2012 findet ausserdem ein Werkstattgespräch statt; meine Gesprächspartner sind Valérie Carré und Till Zimmermann. Ich freue mich.

18 Oktober, 2012

08 Oktober, 2012

(Wieder-) Gesehen [4]


CARRIE (William Wyler, USA 1952)

Eine Art Edel-Melodram, sorgfältig darauf bedacht, der bitteren Geschichte (nach einem Dreiser-Roman) keine zu große Lebensähnlichkeit zu geben, so dass wir uns an Laurence Oliviers Kunst der Verwahrlosung delektieren können. Sicher eine seiner besten Leistungen. Auch Jennifer Jones glänzt in einer Rolle, die im wirklichen Leben schwer zu ertragen wäre, ein Mädchen, das keine andere Möglichkeit sieht, als sich von halbseidenen Männern aushalten zu lassen. Wylers Kunst, ihr Schicksal zwischen Unschuld und „Sünde” in der Schwebe zu halten, ist von perverser Geschmeidigkeit. Sehenswert.



MONSIEUR VERDOUX (Charles Chaplin, USA 1947)

An Chaplins Filmen hat mich oft der Hang zum Süßstoff gestört; erst Monsieur Verdoux hat mir klar gemacht, wie böse sein Witz ist. Sentimentalität gibt es auch hier, aber sie wird mit so kalter Verachtung serviert, dass sie meine Erinnerung der anderen Filme in Frage stellt. Ich muss sie mir daraufhin noch einmal ansehen. Chaplin spielt den beunruhigend nervösen Hochstapler und Frauenmörder, dem seine Grausamkeit als Notwehr gegen eine gefühllose Welt erscheint. Das verblüffende ist, dass wir ihm lange in dieser bizarren Rechtfertigung folgen, zumal er durchaus keine Lust an seinem „Beruf” zu verspüren scheint und seine Opfer denkbar unsympathisch sind. Ein Meisterwerk.



OBERST REDL (István Szabó, BRD, Österreich, Ungarn, Jugoslavien 1985)

Nicht so sehr eine Geschichte als ein Reigen von Szenen und Fragmenten, die sich erst nach und nach dramatisch zuspitzen. Gelegentlich als „Vehikel” für seinen Star abgetan findet Brandauer hier in meinen Augen zu seiner besten und subtilsten Leistung. Die Geschichte eines Aufsteigers, der trotz seiner Erfolge und Freundschaften immer wieder die Grenze, die „schlechte” Herkunft zu spüren bekommt und sich in einer so wahnwitzigen wie glaubwürdigen Wendung schließlich dafür hergibt, den Verräter zu spielen, der er nicht ist. Brandauer arbeitet die hitzige Eitelkeit des Emporkömmlings wunderbar heraus, „kühlt” sie zugleich mit einer Verlorenheit, die herzzerreissend ist.




PENDA'S FENN (Alan Clarke, UK 1974)

Alan Clarke widmet sich hier mit Liebe und Witz den verstiegenen Gedanken eines jungen Mannes, dem sich plötzlich das vor-christliche England zu offenbaren scheint. Großartig, wie mühelos hier Dämonen und Erscheinungen mit Alltag verknüpft werden, realistisch gegenüber der inneren Wirklichkeit des Helden. Trotz der bescheidenen, handgemachten Effekte enthält der Film einige der unheimlichsten Szenen, die ich je gesehen habe.



THE SPY WHO CAME IN FROM THE COLD (Martin Ritt, UK 1965)

Glamour-Kitsch und Agenten-Genre scheinen untrennbar verbunden. Martin Ritts Le Carré-Bearbeitung ist eine Ausnahme. Richard Burton spielt einen müden Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes, der sich für ganz illusionslos hält. Als Zuschauer ist man geneigt, ihm zu glauben. Aber natürlich hält das Manöver, in dem er mitzuspielen hat, dann doch ein paar Wendungen bereit, die ihn unvorbereitet treffen – mit schmerzhaften Konsequenzen. Ein Film, der mit altmodischer Sorgfalt die Symmetrie der Systeme herausarbeitet und einen denkbar trockenen Blick auf den kalten Krieg wirft.



INSECT WOMAN (Shōhei Imamura, Japan 1963)

Die meisten Biografien werden paranoisch erzählt. Im Lichte eines Höhe- oder Schlußpunkts erscheinen alle Ereignisse als „funktionaler Rest” einer Indizienkette. Imamura hält nichts von dieser Zentralperspektive. Er erzählt die Geschichte einer Frau, die lebt. Rui (Emiko Aizawa) hat erhebliche Widerstände zu überwinden, wird vergewaltigt und misshandelt, aber darin geht ihr Leben nicht auf. Sie lebt weiter, erringt Erfolge und Niederlagen, bleibt widersprüchlich. Spät im Film (aber auch das ist kein Schlußpunkt) setzt sie das Unrecht, das sie klar erkannte, als es sie selbst betraf, fort – ohne Bewusstsein für den Fehler. Sie an dieser Stelle, die mich empört hat, nicht zu verurteilen, genau darin liegt Imamuras Humanismus: Er verweigert die Summe. Der Film ist auch formal interessant; es gibt große Sprünge, manchmal strafft sich der Rhythmus, der von keinem Ereignis dominiert wird, auf nichts „hinausläuft”, in Montagen unbewegter Bilder. Auch gibt es plötzliche Momente symbolischer Überhöhung, die dem realistischen Ton anderer Szenen widersprechen. Im besten Sinne unreines Kino.



OVERLORD (Stuart Cooper, UK 1975)

Ein erstaunlicher Film, der Imamura hätte gefallen können. Ein junger Brite steht im Mittelpunkt, der in den Zweiten Weltkrieg gezogen wird. Er lernt, was es heißt, Soldat zu sein. Ahnt, was Abschied bedeutet. Küsst zum ersten Mal – und stirbt. Aber nichts geht aus dem anderen hervor, nichts ergibt einen „höheren Sinn”, und schon gar nicht macht der Krieg oder sein früher Tod einen Helden aus ihm. Die Kriegsbilder selbst sind dokumentarisch und mischen alle Quellen, was ihnen eine seltsame Neutralität gibt, sie auch entpolitisiert. Sie unterstützen so die Perspektive des Mannes, für den der Krieg ein Schicksal ist wie eine Krankheit. Man muss ihn ertragen. Nur ein Gott könnte ihn sich zu eigen machen. Tom (Brian Sterner) ist kein Gott, er ist im Gegenteil ungemein menschlich (aber vielleicht einen Tick zu harmlos). Cooper beschreibt ihn mit einer Zärtlichkeit, die man gesehen haben muss.



I PUGNI IN TASCA (Marco Bellocchio, Italien 1965)

Eine innere Unruhe beherrscht den Film, die für Rebellion halten kann, wer mag. Für mich war es eher befremdlich, wie der Film die narzistische Enthemmung feiert, die Lou Castell zum Mutter- und Brudermörder macht. Am besten haben mir die Szenen gefallen, die in Richtung einer hysterischen Komödie gehen; die nicht bestandene Fahrprüfung und welche Konsequenzen das auf die Mordpläne hat. Im Stil der Zeit – nicht zufällig ist Brandos Bild immer wieder zu sehen – spielt Castell raubkatzenhafte, erotisch lockende Unreife. Bellocchio erklärte im Publikumsgespräch, die Wahl sei auf Castell gefallen wegen des „asiatischen Zuschnitts der Augen” - der Preis war die Notwendigkeit zu synchronisieren. Interessant scheint mir der Vergleich mit dem 40 Jahre später entstandenem BUONGIORNO, NOTTE, den man als Kommentar und Korrektur des berühmten Debüts verstehen könnte. Hier wie dort geht es um eine „Terror-Familie”, um Ideen, die zur Gewalt zwingen, um Inkonsequenz als Ausdruck von Menschlichkeit. 

01 Oktober, 2012

Neue Neue Rundschau


Die neue Ausgabe der Zeitschrift Neue Rundschau (Fischer Verlag) ist erschienen – dieses Mal mit dem Schwerpunkt Comic. Ich habe einen Text über Hans Hillmanns graphic novel FLIEGENPAPIER beigesteuert. Christian Petzold schreibt über „Hawaiian Getaway” von Adrian Tomine. In der Rubrik Carte Blanche ist der Schriftsteller (mein Drehbuch-Schreibpartner) Ulrich Peltzer vertreten.

Roberto Bolaño:

„In diesem Moment erschien der Wirt und legte ein Video ein. Dazu musste er auf einen Stuhl steigen. Von dort verkündete er: „Ich mache euch jetzt ein Video an, Kinder.” Niemand beachtete ihn. „Eine faule Bande seid ihr”, sagte er wie zum Abschied. Der Film handelte von postnuklearen Motorradfahrern. „Kenn ich schon”, sagte El Cordero, als er mit zwei Gläsern Cognac zurückkam. Das Mädchen am Kamin begann zu weinen. Ich kann es nicht erklären, aber sie war die Einzige in der ganzen Kneipe, die nicht hier zu sein schien. Ich fragte El Cordero, warum sie weinte. „Woher weißt du, dass sie weint?”, entgegnete er, „ich sehe kaum ihr Gesicht”. Ich zuckte mit den Achseln; im Fernseher brachen zwei Motorradfahrer in die Wüste auf; einer der beiden war einäugig; am Horizont ragten die Reste einer Stadt auf: die Ruine einer Tankstelle, ein Supermarkt, eine Bank, ein Kino, ein Hotel ... „Mutanten”, sagte El Cordero und dreht sich ins Profil, um ein bisschen was zu sehen.”

Aus: Roberto Bolaño „Das Dritte Reich”. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Hanser Verlag (S. 89)

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Ein Beispiel für „vermischte Wahrnehmung”, die unseren Medienalltag mehr und mehr bestimmt. Die Rückwirkung auf das Kino interessiert mich. Vielleicht komme ich bei Gelegenheit dazu, etwas darüber zu schreiben.