08 Oktober, 2012

(Wieder-) Gesehen [4]


CARRIE (William Wyler, USA 1952)

Eine Art Edel-Melodram, sorgfältig darauf bedacht, der bitteren Geschichte (nach einem Dreiser-Roman) keine zu große Lebensähnlichkeit zu geben, so dass wir uns an Laurence Oliviers Kunst der Verwahrlosung delektieren können. Sicher eine seiner besten Leistungen. Auch Jennifer Jones glänzt in einer Rolle, die im wirklichen Leben schwer zu ertragen wäre, ein Mädchen, das keine andere Möglichkeit sieht, als sich von halbseidenen Männern aushalten zu lassen. Wylers Kunst, ihr Schicksal zwischen Unschuld und „Sünde” in der Schwebe zu halten, ist von perverser Geschmeidigkeit. Sehenswert.



MONSIEUR VERDOUX (Charles Chaplin, USA 1947)

An Chaplins Filmen hat mich oft der Hang zum Süßstoff gestört; erst Monsieur Verdoux hat mir klar gemacht, wie böse sein Witz ist. Sentimentalität gibt es auch hier, aber sie wird mit so kalter Verachtung serviert, dass sie meine Erinnerung der anderen Filme in Frage stellt. Ich muss sie mir daraufhin noch einmal ansehen. Chaplin spielt den beunruhigend nervösen Hochstapler und Frauenmörder, dem seine Grausamkeit als Notwehr gegen eine gefühllose Welt erscheint. Das verblüffende ist, dass wir ihm lange in dieser bizarren Rechtfertigung folgen, zumal er durchaus keine Lust an seinem „Beruf” zu verspüren scheint und seine Opfer denkbar unsympathisch sind. Ein Meisterwerk.



OBERST REDL (István Szabó, BRD, Österreich, Ungarn, Jugoslavien 1985)

Nicht so sehr eine Geschichte als ein Reigen von Szenen und Fragmenten, die sich erst nach und nach dramatisch zuspitzen. Gelegentlich als „Vehikel” für seinen Star abgetan findet Brandauer hier in meinen Augen zu seiner besten und subtilsten Leistung. Die Geschichte eines Aufsteigers, der trotz seiner Erfolge und Freundschaften immer wieder die Grenze, die „schlechte” Herkunft zu spüren bekommt und sich in einer so wahnwitzigen wie glaubwürdigen Wendung schließlich dafür hergibt, den Verräter zu spielen, der er nicht ist. Brandauer arbeitet die hitzige Eitelkeit des Emporkömmlings wunderbar heraus, „kühlt” sie zugleich mit einer Verlorenheit, die herzzerreissend ist.




PENDA'S FENN (Alan Clarke, UK 1974)

Alan Clarke widmet sich hier mit Liebe und Witz den verstiegenen Gedanken eines jungen Mannes, dem sich plötzlich das vor-christliche England zu offenbaren scheint. Großartig, wie mühelos hier Dämonen und Erscheinungen mit Alltag verknüpft werden, realistisch gegenüber der inneren Wirklichkeit des Helden. Trotz der bescheidenen, handgemachten Effekte enthält der Film einige der unheimlichsten Szenen, die ich je gesehen habe.



THE SPY WHO CAME IN FROM THE COLD (Martin Ritt, UK 1965)

Glamour-Kitsch und Agenten-Genre scheinen untrennbar verbunden. Martin Ritts Le Carré-Bearbeitung ist eine Ausnahme. Richard Burton spielt einen müden Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes, der sich für ganz illusionslos hält. Als Zuschauer ist man geneigt, ihm zu glauben. Aber natürlich hält das Manöver, in dem er mitzuspielen hat, dann doch ein paar Wendungen bereit, die ihn unvorbereitet treffen – mit schmerzhaften Konsequenzen. Ein Film, der mit altmodischer Sorgfalt die Symmetrie der Systeme herausarbeitet und einen denkbar trockenen Blick auf den kalten Krieg wirft.



INSECT WOMAN (Shōhei Imamura, Japan 1963)

Die meisten Biografien werden paranoisch erzählt. Im Lichte eines Höhe- oder Schlußpunkts erscheinen alle Ereignisse als „funktionaler Rest” einer Indizienkette. Imamura hält nichts von dieser Zentralperspektive. Er erzählt die Geschichte einer Frau, die lebt. Rui (Emiko Aizawa) hat erhebliche Widerstände zu überwinden, wird vergewaltigt und misshandelt, aber darin geht ihr Leben nicht auf. Sie lebt weiter, erringt Erfolge und Niederlagen, bleibt widersprüchlich. Spät im Film (aber auch das ist kein Schlußpunkt) setzt sie das Unrecht, das sie klar erkannte, als es sie selbst betraf, fort – ohne Bewusstsein für den Fehler. Sie an dieser Stelle, die mich empört hat, nicht zu verurteilen, genau darin liegt Imamuras Humanismus: Er verweigert die Summe. Der Film ist auch formal interessant; es gibt große Sprünge, manchmal strafft sich der Rhythmus, der von keinem Ereignis dominiert wird, auf nichts „hinausläuft”, in Montagen unbewegter Bilder. Auch gibt es plötzliche Momente symbolischer Überhöhung, die dem realistischen Ton anderer Szenen widersprechen. Im besten Sinne unreines Kino.



OVERLORD (Stuart Cooper, UK 1975)

Ein erstaunlicher Film, der Imamura hätte gefallen können. Ein junger Brite steht im Mittelpunkt, der in den Zweiten Weltkrieg gezogen wird. Er lernt, was es heißt, Soldat zu sein. Ahnt, was Abschied bedeutet. Küsst zum ersten Mal – und stirbt. Aber nichts geht aus dem anderen hervor, nichts ergibt einen „höheren Sinn”, und schon gar nicht macht der Krieg oder sein früher Tod einen Helden aus ihm. Die Kriegsbilder selbst sind dokumentarisch und mischen alle Quellen, was ihnen eine seltsame Neutralität gibt, sie auch entpolitisiert. Sie unterstützen so die Perspektive des Mannes, für den der Krieg ein Schicksal ist wie eine Krankheit. Man muss ihn ertragen. Nur ein Gott könnte ihn sich zu eigen machen. Tom (Brian Sterner) ist kein Gott, er ist im Gegenteil ungemein menschlich (aber vielleicht einen Tick zu harmlos). Cooper beschreibt ihn mit einer Zärtlichkeit, die man gesehen haben muss.



I PUGNI IN TASCA (Marco Bellocchio, Italien 1965)

Eine innere Unruhe beherrscht den Film, die für Rebellion halten kann, wer mag. Für mich war es eher befremdlich, wie der Film die narzistische Enthemmung feiert, die Lou Castell zum Mutter- und Brudermörder macht. Am besten haben mir die Szenen gefallen, die in Richtung einer hysterischen Komödie gehen; die nicht bestandene Fahrprüfung und welche Konsequenzen das auf die Mordpläne hat. Im Stil der Zeit – nicht zufällig ist Brandos Bild immer wieder zu sehen – spielt Castell raubkatzenhafte, erotisch lockende Unreife. Bellocchio erklärte im Publikumsgespräch, die Wahl sei auf Castell gefallen wegen des „asiatischen Zuschnitts der Augen” - der Preis war die Notwendigkeit zu synchronisieren. Interessant scheint mir der Vergleich mit dem 40 Jahre später entstandenem BUONGIORNO, NOTTE, den man als Kommentar und Korrektur des berühmten Debüts verstehen könnte. Hier wie dort geht es um eine „Terror-Familie”, um Ideen, die zur Gewalt zwingen, um Inkonsequenz als Ausdruck von Menschlichkeit. 

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