27 Dezember, 2013

La Faute à Kechiche

Abdellatif Kechiches fünfter Spielfilm LA VIE D'ADÈLE ist ein Aufmerksamkeitsmagnet: Preise, begeisterte Kritiken, dazu eine über die Medien ausgetragene Schlammschlacht. Gut möglich, dass mir falsche Erwartungen den Blick auf den Film verstellt haben. Meine Enttäuschung erklärt das nur zum Teil.

Der Film beginnt auf eine für das jüngere französische Kino vertraute Weise: additiv, ausführlich, alltäglich etabliert Kechiche seine Protagonistin. Über „die Brücke der Fiktion” (von der Douchet einmal gesprochen hat) traut er sich lange nicht. Die Hoffnung, das redundante Erzählen wäre ein im Gesamtzusammenhang notwendiges Insistieren, erfüllt sich nicht. Kechiche folgt hier – ohne den Widerstand jugendlicher Laiendarsteller und dem doppelten Boden des „Spiel im Spiel” wie in L'ESQUIVE – einem naiven Verismus, der statt komplexer Charaktere nur ein endloses treppauf treppab klischierter Charakterisierungen zu bieten hat.

Bald aber erweist sich, dass Kechiche unter der Tünche seines realistischen Stils pädagogische Absichten verfolgt. „Das ist lesbische Liebe” scheint er zu sagen, „das ist Literatur”, „das ist Kunst”. Mehr und mehr degradiert er seine Darsteller zu Lautsprechern ziemlich beschränkter Ansichten, die offenbar dem Regisseur selbst gehören (falls sie auf die Vorlage zurückgehen, entschuldigt das nichts). Das ganze wird im schmalen Vokabular einer Fernsehdokumentation gefilmt: eine aktionszentrierte Handkamera, die an den Protagonisten klebt, immer nah oder halbnah, ohne weitere Modulation des filmischen Raumes. Die Sexszenen, von denen so viel zu lesen war, finden im banalen Licht des Sexualkundeunterrichts statt. Auch der Musikeinsatz – als Source-Musik markiert, aber im Klang extradiegetisch – ist überdeutlich. Kechiche hat ein Problem mit der Imagination des Zuschauers: alles will ER ausmalen.

Das zeigt sich passender Weise auch an seiner Vorstellung von bildender Kunst: die Bilder, die Léa Seydoux vorgeblich malt (einmal sehen wir, wie ihre bescheidene Skizze in der Großaufnahme durch die eines Routiniers ersetzt wird), haben mit dem aktuellen Kunstgeschehen nicht nur nichts zu tun, sie sind auch für Reaktionäre, die eine Wiederkehr der akademischen Malerei des 19. Jahrhunderts ersehnen, nicht satisfaktionsfähig. Es ist naive Gebrauchsgrafik der Sorte, die Straßenhändler gerne anbieten.

Nun ist Kunst im Film ein Kapitel für sich, auch Gene Kelly als Amerikaner in Paris z. B. malt herzlich schlecht, aber in Kechiches Realismuskonzept ist eben kein Platz für Übertragungen. Er will, dass wir ihn beim Wort nehmen. Bei dem Unsinn, den er der Kunststudentin und ihren Freunden in den Mund legt, fällt das zunehmend schwer. Und die „Wörtlichkeit” macht auch seine Beschreibung der lesbischen Liebe so traurig. Wie um Missverständnisse zu vermeiden, küssen sich gleichgeschlechtlich Liebende fortwährend. Sie tragen bunte Kleider und Frisuren und sind vorlaut. Waren wir da nicht schon einmal weiter?

Kurz, die ganze Mühe, die Lebendigkeit des Spiels, die 700 Stunden Material bleiben äusserlich. Für ein beobachtendes Kino, für die „Fliege an der Wand” ist Kechiche zu unbescheiden, aber die Charaktere und ihre Konflikte ins Allegorische zu überführen will er auch nicht. Kechiche wirkt wie ein Lehrer, der pausenlos redet, ohne seinen Gegenstand wirklich zu kennen.

Die letzte halbe Stunde habe ich mir dann geschenkt. Ich hatte das Gefühl ich muss gehen, bevor jede Hoffnung auf einen guten Abend verloren ist – und um mir durch das Nicht-wissen einen Ausweg offen zu halten.

12 Dezember, 2013

Ernst Haffner:

Pritzkows Lichtspiele in der Münzstraße 16.

„Das Tageskino Pritzkow in der Münzstraße ist nicht nur Kino, wo Wildwestdramen und Kriminalschmöker gezeigt werden. Es ist auch Wärmehalle und Schlafstelle für solche Begüterten, die die vier Groschen Eintritt erlegen können. Für vier Groschen kann jeder von morgens zehn Uhr bis abends elf Uhr sitzenbleiben, sich das Programm zum sechsten Male vorführen lassen oder auch schlafen. Wie es ihm beliebt. Man zahlt, im Jargon der Stammgäste, auch nicht simples Eintrittsgeld, um nach zwei Stunden wieder zu gehen. Bei Pritzkow zahlt man Schlafgeld und bleibt entsprechend lange sitzen. Knüppeldickevoll ist das handtuchschmale Theater zu jeder Tageszeit. Dicht an dicht sitzen die Jungen und Burschen, starren teils interessiert, teils bereits gelangweilt auf die mißtönende Leinwand oder sitzen schon ihr Schlafgeld ab. Sanft an den Nachbarn, auf des Vordermannes Stuhlrücken gelehnt oder gesenkten Kopfes die Westenknöpfe zählend.

Offenen Mundes sieht Willi Kludas auf die Leinwand. Für ihn ist diese bescheidene Vorführung ein Wunder. Von Tonfilmen hat er überhaupt noch nichts gehört, und diese Mädels da auf der Leinwand ... wie die gebaut sind ... wie alles hüpft an ihnen, wenn sie gehen ... Wie sie sich auf die schicken Kavaliere werfen und sie abknutschen ... verdammt! Und die süßen Stimmen, wenn sie singen ... wie sie die kurzen Röcke werfen beim Tanzen! Wili Kludas rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her, sein Gesicht glüht, und seine schweißnassen Finger zerren aufgeregt aneinander. Mit so einem Mädel zusammen sein ... so ein Mädel mal zu sehen, wenn ...”


Aus Ernst Haffners schönem Reportageroman „Blutsbrüder”, wiederentdeckt und neu veröffentlicht im Metrolit Verlag.

11 Dezember, 2013

Counter-Cinema


Sehe eben, dass man auf Amazon einen Blick ins Buch von Marco Abel werfen kann. Die Einleitung ist so zwar nicht komplett zu lesen, aber man bekommt einen Eindruck von Abels zentraler These, für die er einigermassen waghalsig meinen Kurzfilm SÉANCE als Denkmodell gebraucht. Abel schreibt für ein akademisches Publikum, aber die Auseinandersetzung mit seiner Sicht auf das deutsche Kino lohnt sich, finde ich, gerade weil es eine Aussenperspektive ist.

Hans Helmut Prinzler bespricht das Buch übrigens hier.

01 Dezember, 2013

Mitbringsel



Wie erwähnt findet noch bis 6. Dezember im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) eine Reihe zur Berliner Schule statt. In den nächsten Tagen werden auch FALSCHER BEKENNER (6.12.2013) und UNTER DIR DIE STADT (1.12.2013) noch einmal zu sehen sein. 

Begleitend zur Werkschau ist ein Buch erschienen (herausgegeben von Rajendra Roy und Anke Leweke), das als schönes Mitbringsel aus New York mein Handgepäck beschwert hat. Ich weiss nicht, ob ich als Beteiligter – ich habe den Text „On Whose Shoulders” beigesteuert – glaubwürdig klinge, aber ich finde, die Sache ist rund geworden. 

Die Beiträge von Thomas Arslan, Valeska Grisebach, Benjamin Heisenberg, Nina Hoss, Dennis Lim, Katja Nicodemus, Christian Petzold und Rainer Rother nehmen jeweils sehr verschiedene, sich ergänzende aber durchaus nicht passgenau abgestimmte Perspektiven ein. Kurz: Ich finde, man kann den Band getrost kaufen oder verschenken, zumal es keine vergleichbare deutschsprachige Publikation gibt.

P.S.:
Die freie Leseprobe erlaubt die Lektüre meines Artikels.  

15 November, 2013

Realismus ...

... ist billig.

... ist ein Genre (wie der Fernsehkrimi).

... liebt die Straße.

... ist unrealistisch.

... ist ein Mißerfolgsrezept.

... ist offen für den Zufall (wenn er „poetisch” ist).

... ist rationalistisch.

... wird immer gelobt.

... tut weh.

... braucht kein Drehbuch.

... heißt Handkamera.

... vertraut dem Prozeß.

... behauptet die Abwesenheit von Gestaltung.

... ergreift für Aussenseiter Partei.

... ist das Projekt einer abstiegsbedrohten Mittelklasse.

... hat keine Fantasie.

... ist eine Frage der Technik.

... kann sich nicht entwickeln.

... ist naiv.

... ist negativ.

... ist Anti.

... ist improvisiert.

... ist Ausdruck eines politischen Erwachens.

... kommt ohne Musik aus.

... ist eine ausgereifte Lüge.

... ist anti-intellektuell.

... ist so gut wie seine Darsteller.

... braucht den Mainstream.

... ist schmutzig.


Stichwortkatalog, zur Vorbereitung der Veranstaltung „Neue Realistische Schule?”, auf der Nicolas Wackerbarth und ich 2005 versucht haben, mit den KollegInnen Maren Ade, Silke Enders, Henner Winckler und Sören Voigt über „Realismus” zu streiten.

10 November, 2013

Live 33

Ein Bild aus MONOLOG FÜR EINEN TAXIFAHRER (DDR 1964).

Kurzer Hinweis:

Am Montag, den 2. Dezember mache ich ein Revolver Live (#33) mit dem Regisseur Günter Stahnke, im Roten Salon der Volksbühne. Beginn: 19.30 h. Mehr dazu hier. Vielleicht sehen wir uns?

04 November, 2013

Mosaik


Im Schneideraum. Jeder „untrennbaren Einheit” ist ein Bild zugeordnet, das wir (= Stefan Stabenow und ich) an der Wand mit anderen Szenenbildern kombinieren. Mir scheint diese Bastelarbeit – vielleicht weil sie physisch-räumlich ist – am besten geeignet, erzählerische Möglichkeiten auszuloten oder Sequenzen zu denken, bevor ich sie gesehen habe.

Siehe auch *

31 Oktober, 2013

Empfehlung

Am Montag gibt es ein schönes SWR2- Radioportrait der Musik / des Musikers Benedikt Schiefer, mit dem ich gerade wieder zusammenarbeite. 

„Magischer Querdenker: Benedikt Wolfgang Schiefer”. Von Bernd Künzig. Sendung am Montag, den 4.11.2013 um 23.03 Uhr auf SWR2.


back to form?





Vorgestern ist der zweite Trailer für Martin Scorseses neuen Film THE WOLF OF WALL STREET veröffentlicht worden. Für mich ein großes Versprechen: back to form. Dem Trailer nach eine Fortsetzung der modernistischen Erzählenweise von GOODFELLAS und CASINO (für mich Scorseses letzter wirklich aufregender Film). Wieder eine reale Figur, wieder ein radikaler Antiheld, auf den ein faszinierter, moralfreier, aber „herzloser” Blick fällt. Auch die Parallelität von Zeigen und Sprechen, der musikalisch gedopte Dokumentar-Stil, das überhöhte Spiel erinnert an seine großen Filme. Ich bin sehr gespannt.

21 Oktober, 2013

Ehrensachen


Vom 20. November bis 6. Dezember findet im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) eine Reihe zur Berliner Schule statt, kuratiert von Rajendra Roy und Anke Leweke.

17 Filme von 9 Filmemachern werden gezeigt, darunter FALSCHER BEKENNER (26.11. & 6.12.2013) und UNTER DIR DIE STADT (24.11. & 1.12.2013). Begleitend zur Werkschau erscheint ein Katalog mit Beiträgen von Thomas Arslan, Valeska Grisebach, Benjamin Heisenberg, Nina Hoss, Dennis Lim, Katja Nicodemus, Christian Petzold und Rainer Rother. Ich habe einen Text zur Frage der „ästhetischen Herkunft” beigesteuert. 


Parallel findet im Deutschen Haus (NYU) eine zweitägige Konferenz zum Thema statt, an der ich zusammen mit Thomas Arslan, Benjamin Heisenberg, Ulrich Köhler, Christian Petzold, Angela Schanelec und Reinhold Vorschneider teilnehmen werde. Moderation: Marco Abel, Katja Nicodemus, Fatima Naqvi.


In einem Modern Monday (25.11.2013) mit Benjamin Heisenberg und mir soll es dann um die „Theorie der Praxis” bei Revolver, filmische Einflüsse und persönliche Ausblicke gehen.


In passender Zufälligkeit erscheinen in den USA zeitgleich drei thematisch relevante Bücher: Marco Abels "The Counter-Cinema of the Berlin School", der von Roger F Cook, Lutz Koepnick, Kristin Kopp und Brad Prager herausgegebene "Berlin School Glossary" sowie eine Monografie zum Kino von Christian Petzold, von Jaimey Fisher. Und schliesslich widmet sich das akademische Journal "German Studies Review" in einem Schwerpunkt unserem DREILEBEN-Projekt.

12 Oktober, 2013

Claire Denis:

”In cinema a lot of things are true for the body of the actor: if they are naked, they are naked, if they are sweating, they are sweating, if they fight, they fight. But of course the killing is not true. So the process of dying, to film it has to be a sort of allegory, you know? Otherwise it won't work.” 

Claire Denis über ihren jüngsten Film, LES SALAUDS, im Gespräch mit Daniel Kasman, auf Mubi Notebook.

21 September, 2013

Auf der Stirn

Was wäre verführerischer, als erkannt werden? 

2004 war ich in Hong Kong, als Anhängsel meines Debütfilms. Die Stadt war fußläufig nicht einfach zu erschliessen. Immer wieder mündeten Bürgersteige in Malls oder endeten in Sackgassen. „Öffentlicher Raum” spielte keine große Rolle. Einmal bin ich beim Queren einer großen Straße auf einer Verkehrsinsel gestrandet. Wie ich kam auch ein anderer Mann auf die Insel, von der anderen Seite. Er trug Turban und einen Punkt auf der Stirn, ein Inder aus dem Bilderbuch, dachte ich. Kaum hatte er mich erblickt, stürzte er ungläubig staunend zu mir. Statt zu sprechen stammelte er und deutete auf meine Stirn. Er schien ehrlich ergriffen von meiner Anwesenheit und fragte, ob er – bitte – auf meiner Stirn „lesen” dürfe. Ich war überrumpelt, fühlte mich geschmeichelt und erlaubte es ihm. In der Tiefe meines Herzens hielt ich es für möglich, der „Auserwählte” zu sein, als der ich behandelt wurde. Natürlich musste ich diese Eitelkeit dann teuer bezahlen. Der Mann wollte eine Menge Geld für seine Lektüre und wurde sehr barsch, als ich versuchte, zurückzurudern. Ich zahlte schliesslich – in dem Gefühl, es nicht besser verdient zu haben. Von seiner Version meiner großen Zukunft ist mir nur ein Satz geblieben: „You think too much”.


19 September, 2013

Kategorischer Imperativ


Gerade lese ich, dass die – denkmalgeschützten – Kantgaragen abgerissen werden sollen. Das darf nicht geschehen. Das Garagenhaus ist ein Höhepunkt der 20er Jahre Moderne in Berlin, es steckt voller aussergewöhnlicher Details und ist in seiner Art einzigartig. Die „Baufälligkeit”, von der die Besitzer sprechen, habe ich vor zwei Wochen (als wir dort eine Szene drehten) nicht feststellen können, wohl aber schwere Vernachlässigung. Offensichtlich werden seit Jahren die einfachsten Reparaturen unterlassen, in der Hoffnung auf irreparable Schäden. Das ist ein Skandal, der in Berlin Tradition hat. Man kann nur hoffen, dass Baustadtrat Marc Schulte diese billige Rechnung durchkreuzt.

11 September, 2013

Ohne Titel

Im Bild: Florian David Fitz als „Fabian”.

Mein neuer Film, zur Zeit ohne Titel, ist seit dem Wochenende abgedreht. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, die Produktion mit Einträgen zu begleiten, aber unterwegs hat sich mein Mitteilungsbedürfnis weitgehend erschöpft. So oder so, der Dreh war eine gute Erfahrung und ich bin gespannt, wie die Sache ausgeht. Nächste Woche geht es in den Schnitt. Wünscht mir Glück!

Christoph

Update (3/14):
Der Film heisst DIE LÜGEN DER SIEGER.

10 September, 2013

Die Übertragung

Ich habe heute absichtslos zufällig ein Buch gekauft, eine graphic novel wie Autorencomics ja nun heissen, und bin so beglückt, dass ich die „Entdeckung” (die aber allüberall schon gelobt wird, wie eine kurze Googlei ergibt) gleich teilen möchte:




Manuele Fiors DIE ÜBERTRAGUNG (avant-verlag) ist, auf das oberflächlichste beschrieben, eine Science Fiction Geschichte über eine unheimliche Begegnung der dritten Art. Ausserirdische sind so ziemlich das Letzte, was mich lockt, aber das Genre ist hier der willkommene Vorwand, die Gegenwart neu und fremd zu sehen. Im Zentrum stehen Gefühle, vielleicht so wie es in LA JETÉE um Gefühle geht: als Erscheinungen, die uns besuchen. Wie zart und entschlossen hier Linien und Flächen in Spannung gesetzt werden, ohne dass die Grafik je in Formalismen erstarrte ... wie sehr man sich um die Figuren sorgt in all der Schönheit – das hat mich umgeworfen. Die Delikatesse der Zeichnung erinnert (und das ist der Olymp für mich) an Olaf Gulbransson und trifft wie schwerelos auf die Raumsprache Michelangelo Antonionis (dessen Filme Fior auch als Inspiration für den Band benannt hat) ... Toll.

16 Juli, 2013

Auf Anfang

Sophie Charlotte Conrad als „Lea”

Erfahre eben, dass man meinen Debütfilm MILCHWALD (D 2003) zur Zeit auf Mubi streamen kann.

07 Juli, 2013

unpolitisch

Bekanntermassen war Goebbels der Meinung, die UFA sei der Propaganda dienlicher, wenn sie „unpolitisch” bliebe. Und wirklich finden sich 1933-45, abseits der „staatspolitisch wertvollen” Gesinnungsfilme, kaum tagesaktuelle Bezüge*, kein „Judenproblem”, keine Führer-Rede, ja noch nicht mal NS-Klassizismus und „deutsche Kunst”, von Terror und Vernichtung ganz zu schweigen. Gegenwart findet allenfalls implizit statt, in Form eines besonders „frischen” Lehrers zum Beispiel („Die Feuerzangenbowle”) oder invers, weil die Idylle unwillkürlich vom Untergang spricht („Unter den Brücken”). Die meisten Geschichten aber drehen sich „zeitlos” um „ewige” Probleme: die Liebe, die Sehnsucht, die Verwechslung: „Intimkitsch der heilbaren Irrungen” (Ivan Nagel).

Das ist im deutschen Kino heute kaum anders. Zwar wird Gegenwart schon aus Budgetgründen gerne behauptet, aber die Antworten fallen zuverlässig „privat” aus, während die politische Sphäre, die Welt der Arbeit, überhaupt: Gesellschaft und Öffentlichkeit, weitgehend ausgeblendet bleiben. Ich erinnere mich an keinen einzigen Spielfilm, in dem der Name der Kanzlerin fiele. Und während ich noch im durchschnittlichsten amerikanischen Film etwas über Prozesse lerne, scheut der deutsche Spielfilm die Recherche wie der Teufel das Weihwasser, von den Uniformknöpfen in Nazifilmen einmal abgesehen.

Nun gibt es gute Gründe gegen einen „politischen” Film, der Wirkungsabsichten und „sagen wollen” mit Erzählen verwechselt. Ulrich Köhler hat sich 2007 zu recht gegen eine politisch funktionalisierte Ästhetik gewandt. Aber in einem einfacheren Sinne politische Filme vermisse ich durchaus. Filme, die die Sphäre des Politischen beschreiben etwa. Die unsere Institutionen von innen zeigen. Gerichtsfilme zum Beispiel, aber auch Filme, die neben einem Prozess spielen. In welcher Realität lebt ein Richter? Ein Verbindungsoffizier der Bundeswehr? Ein Ministerialbeamter? Ein Abgeordneter im Landtag? Ich spreche hier nicht vom Dokumentarfilm. Und nichts liegt mir ferner als den Lehr-Spielfilm zu fordern. Aber ich will Figuren sehen, die in unserer Welt leben, in unserem Land, mit spezifischen Erfahrungen.

Ich sehne mich nach einem Kino, das als Seismograf der Gegenwart taugt. Das über mehr oder weniger flotte Dreier hinausgeht. Das unseren Wirklichkeitsbegriff verschärft. Auf den Plätzen europäischer Hauptstädte, in den politischen Eliten, auch in den Schlagzeilen der Zeitungen spitzen sich die Konflikte zu. Wie lange dauert die Euro-Krise nun schon? Fünf Jahre? Geht uns das nichts an? Im deutschen Kino jedenfalls spürt man davon nichts.

In Kürze drehe ich einen neuen Film, einen Polit-Thriller, nach einem Drehbuch, das ich mit Ulrich Peltzer geschrieben habe. Nicht, weil ich hoffte, „die Welt” zu verändern. Aber durchaus, um den Blick zu schärfen für Zusammenhänge, die zwar offenkundig sind, aus denen aber selten die Summe gezogen wird. Es ist der Versuch, die älteste aller politischen Fragen –„Wem nützt es?” – im hauptstädtischen Medienmilieu zum Klingen zu bringen. Erzählt wird die Geschichte einer Täuschung, ein Journalist gerät ins Machtfeld einer Lobby, wird zum Stein im Schuh eines großen Spielers...

Die Herausforderung besteht unter anderem darin, gegenwärtig, aber nicht aktualistisch zu sein. Das System zu beschreiben, ohne deshalb den Eigensinn der Figuren zu vernachlässigen. Recherche sinnlich zu machen, ohne journalistisch zu werden. Und auch darin, erzählerische Bedürfnisse des Zuschauers und formalistische Interessen meinerseits in einen produktiven Zusammenhang zu bringen. Ich bin gespannt.

*) Nachtrag:
Eben lese ich (in einem Artikel von Lars-Olav Beier im aktuellen Spiegel 3. März 2014) dass Filme aus der NS-Zeit in der Regel erst nach einer Bereinigung freigegeben wurden, d.h. Embleme des Regimes, Uniformen und dergleichen wurden herausgeschnitten. War das nicht möglich, landeten die Titel für gewöhnlich im Giftschrank („Unter Vorbehalt”). Diese Säuberungspraxis hatte ich nicht bedacht.

25 Juni, 2013

Lange Nacht

Paraschiva Dragus in meinem Film EINE MINUTE DUNKEL (D 2011).

Die DREILEBEN-Filme werden in Köln auf großer Leinwand gezeigt, und zwar am Samstag, den 6. Juli 2013 um 19.30 h (Petzold), 21.30 h (Graf) und 23.15 h (mein Beitrag) in der Filmpalette, im Rahmen der Kölner Kinonächte.

01 Juni, 2013

Phantom Bild

Foto: Saul Leiter

Eine Fotografie ist ein gewordenes Bild. Man kann es nicht denken. Wesentlich scheint mir sein Verhältnis zur Wirklichkeit. Vielleicht könnte man von einem Phantombild sprechen.

Einerseits im Sinne eines Trugbildes:
Über die Spiegelachse der Apparatur ist es mit dem Wirklichen verbunden. Man kann vom Wirklichen auf das Bild schließen, aber das Bild erlaubt keinen zuverlässigen Weg zurück, schon weil es von der Zeitachse „entknüpft” ist. 

Phantombild aber auch im Sinne eines Suchbildes
Wie im Kontext polizeilicher Ermittlungen gibt es einen Unterschied zwischen dem Gesuchten und dem Bild. Es ist ein Werkzeug der Suche.



Geschrieben für das Antifoto Manifesto.

23 Mai, 2013

Spam

Wie so viele nutze ich (unter anderem) Yahoo für meine Mails und bin so gezwungen, täglich abzuwarten, bis sich die Startseite aufgebaut hat. Ich versuche dieser bunten Fassade keine Beachtung zu schenken, denn sie ist ohne Ausnahme dumm und vulgär, aber was mich doch erschreckt und überrascht ist die Monotonie ihrer sexistischen Perspektive. Ist das wirklich Mainstream?

Hier die Schlagzeilen eines (!) Tages in der Rubrik „Stars” (eine von vier „Nachrichten”-Rubriken):

„Ihr sexy Look kann davon nicht ablenken
Im heißen Overall zog _ die Blicke auf sich. Doch die Make-up-Panne war nicht zu übersehen.”

„Ihr Kleid betont es noch zusätzlich
_ Rücken erschien in ihrer nachtblauen Robe schon beinah besorgniserregend mager.”

„_ will nur im Boden versinken
_ reißt seine Frau _ ohne Vorwarnung in die Luft und sorgt für einen unübersehbaren Popo-Blitzer”

„Obenrum sieht sie ganz züchtig aus
Doch untenrum ließ _ bei den _ Awards schlichtweg ein Kleidungsstück weg.”

„Diese Rundungen sind passé
Wie dünn _ mittlerweile wirklich ist, offenbart ein aktuelles Bikini-Foto.”

„Kein Wunder, dass sie so komisch guckt
Auch eine Fashionista der Oberklasse wie Prinzessin _ greift manchmal daneben.”

„Sie hatte sich beinahe halbiert
Als _ am Flughafen nach einem Jahr seine Frau _ wiedersah, war er richtig baff.”

7 Fragen

Alexander Gajic hat mir für die ZDF-Kinosendung „close up” sieben Fragen gestellt, die ich hier (mit ziemlich verunglückter Frisur) beantworte.

19 Mai, 2013

Der Traum von Kontrolle

Der nachfolgende Text ist zehn Jahre alt, enthält aber doch den einen oder anderen aktuellen Gedanken, finde ich. Entstanden ist er im Rahmen des Studiums an der HFF München. Er war bisher auf dem Nachbarblog zu lesen, das ich gerade „aufräume”.




Techniken der Previsualisierung am Beispiel von Coppolas „One From the Heart


Von Christoph Hochhäusler (2003)


I


Die Techniken der Filmherstellung haben sich nach den ersten Jahren der fortwährenden Erneuerung und Innovation überraschend schnell konsolidiert. Spätestens mit Einführung des Tonfilms Ende der 1920er Jahre waren die Zeiten der Patentstreitigkeiten (man denke nur an Edisons Versuche, „seine Erfindung Kino” patentrechtlich zu schützen), der Format- und Frequenzabweichungen ausgestanden. Der sich damals herausbildende Standard 35 mm mit seinem 24-Bilder-Dogma ist bis heute (mit Abstrichen) gültig und seine Ablösung ist - zumindest in der Projektion - in der nächsten Zukunft noch nicht zu erwarten. Auch in den filmhandwerklichen Abläufen, den Hierarchien und Zuständigkeiten hat sich sehr wenig verändert. „Das modernste Medium” hat früh einen hartnäckigen Konservatismus entwickelt, der es immun gegen die Modernisierungswellen gemacht hat, die andere Industrien zur gleichen Zeit nachhaltig verändert haben. Nicht, dass es an Prognosen gemangelt hätte, die einen neuen Standard vorhersagten. Auch hat es immer wieder Versuche gegeben, „technisch überlegene” Sonderformate zu etablieren, man denke nur an die Fülle konkurrierender Breitwandtechnologien seit den 1950er Jahren (VistaVision, CinemaScope, WarnerScope, 65 mm, Imax usw.). Aber die Tatsache der großen Synergien, die ein einheitlicher Standard mit sich bringt, hat in dem teuren Medium Film immer für eine Trägheit gesorgt, die ein einzelner technischer Vorteil nicht überwinden konnte. Nicht zufällig hat deshalb die seit vielen Jahren verkündete und heute konkret zu beobachtende „Digitale Revolution” erst mit dem Argument geringerer Kosten jenen strategischen Brückenkopf erobert, der es uns heute erlaubt, ohne jeden Zweifel über ihre Vollendung zu spekulieren.



II


Als Francis Ford Coppola im April 1979 anlässlich der Oscarverleihung von der technischen Zukunft des Films sprach, war er sich dieser Trägheit der ihn umgebenden Industrie sicher bewusst. Aber nach seinen damals beispiellosen Kassenerfolgen als Regisseur („Der Pate I + II”) und Produzent („American Grafitti”), nach 5 Oscars und einer goldenen Palme (die zweite sollte er einen Monat später für „Apocalypse Now” bekommen), und ausgestattet mit einem großem Vermögen, hatte er den Mut (oder die Frechheit, wie viele meinten), nichts weniger als das Ende des klassischen Produktionsweise zu verkünden: „Wir stehen am Beginn von etwas, was die industrielle Revolution daneben wie einen kleinen provinziellen Testlauf aussehen lassen wird... Ich sehe eine Revolution der Kommunikation... in der es um Filme, Kunst und um Musik gehen wird, um digitale Elektronik und Satelliten, aber vor allem um menschliches Talent - und das wird die Meister des Kinos, von denen wir dieses Geschäft geerbt haben, an Dinge glauben lassen, die sie bis dahin für unmöglich gehalten haben.” Nur kurze Zeit später liess er seinen Worten Taten folgen. Am 25. März 1980 erwarb er die Hollywood General Studios in L.A. für 6,7 Mio. $, taufte sie „American Zoetrope Studios” und investierte weitere 5 Mio $ seines eigenen Geldes, um daraus das „modernste Studio der Welt” zu machen, von dem aus die Idee eines Electronic Cinema seinen Siegeszug hätte beginnen sollen. Coppola wollte nicht länger nur Regisseur sein; als Studioboss, Visionär und Erfinder wollte er die Art und Weise, wie Filme gemacht werden, grundlegend verändern. Was ihn trieb war jedoch nicht so sehr Größenwahn oder Ruhmsucht, als die Hoffnung auf Erneuerung und Befreiung durch die Technik. Er, der mit „Apocalypse Now” alle Widrigkeiten des Filmemachens „on location” am eigenen Leib erfahren musste, wo er mit Stürmen, Unfällen, Krankheiten und einem explodierendem Budget zu kämpfen hatte, träumte jetzt den Traum der Kontrolle.


18 Mai, 2013

Tausend Augen

Wahrscheinlich ist es nur eine Verschwörungstheorie, aber ich hatte in der Vergangenheit immer wieder das Gefühl, aus einem einzelnen Filmbild den ganzen Film ablesen zu können. Als wäre in jeder Einstellung die ganze DNA schon enthalten.


Ein Bild aus Fritz Langs DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE (D 1960).

Mit dem Aufkommen von DVD und Netzvideos sind wir alle zu Röntgen-Ärzten des Kinos geworden. Wir haben den Durchblick, sehen den Schatten auf der Lunge. Das Bild dominiert uns nicht mehr, es ist kleiner als wir. Wir können es angreifen. Vor, zurück. Schneller, langsamer. Wiederholung, Überwachung. „Bildschirmfüllend” oder kleiner. Auf Youtube gibt es die Möglichkeit der Vorschau. Während man die eine Szene sieht, kann man prüfen, ob man die nächste sehen will. Wir warten auf die Bilder, die wir aus dem Trailer (oder der Videokritik) kennen. Wenn sie kommen, haken wir sie ab. Oft fühlen sich die Trailer-Höhepunkte verbraucht an. Wir haben fest im Blick, wie lange der Film noch dauern wird. Die Untertitel informieren uns – zu früh – darüber, dass er sie liebt und sie einen Anderen. Die Schauspieler spielen gegen das Libretto an, das wir mitlesen, mitsingen können. Aus der Tonebene wird Information. Wir verstehen, was die Musik mit uns machen soll. Wir hören den Film leise, weil die Freundin nebenan einen anderen Film sieht. Dann ruft jemand an. Gegen Ende des Films entwickelt sich eine Art Wettlauf zwischen Fortschritt des Balkens und der unvermeidlichen Auflösung. Oft denke ich: wie wollen sie in den paar Minuten noch zu einem guten Ende kommen. Und werde ungeduldig. Mein Bildschirm zwingt mich auch noch, mir selbst beim Sehen zu zusehen, in der Spiegelung. 

Ich kann mich nicht daran gewöhnen, das Erlebnis mit Analyse zu beschneiden. Und doch sehe ich viele Filme auf diese Weise. Ich kaufe mir Filme, will sie besitzen. Und weil sie geduldig im Regal stehen, höre ich mir dann doch den einen oder anderen Audio-Kommentar an. Und lasse zu, dass sich mein Eindruck mit Informationen anreichert, die mich nichts angehen. Oder ich sehe mir das verlogene Making-of an. Ist der Film neu, machen alle Werbung. Ist der Film älter, will niemand dem kanonischen Glück widersprechen. Gelegentlich profitiert der Filmemacher in mir (weil er etwas lernen kann), auf Kosten des Zuschauers. 

Man müsste wieder zurück. Ins Kino. Wo die Bilder Schicksal spielen. Aber die Werkzeuge der Distanzierung sind verführerisch. Oft weiss ich nach der „Lektüre” einer DVD, dass mir der Film gefallen würde, wenn ich ihn „richtig” sehen würde. Manchmal sehe ich mir im Kino an, was ich auf DVD gut fand, kann aber nicht vergessen, was ich schon weiss. Das Bild ist kontaminiert mit Interpretation.

Manche Kollegen, scheint mir, inszenieren schon im Hinblick auf den Audio-Kommentar. Der Schauspieler fragt den Regisseur: „Wie war ich?”, der Regisseur stellt dem Making-of Team die gleiche Frage. Zirkuläre Unterhaltung: der Film als Material für das Infotainment, das sich um den Film dreht. Über viele Filme lässt sich reden, ohne sie zu sehen. Die Produktionsgeschichte, Wirtschaftskrimi und Künstlerdrama, ist komplexer als die Handlung. Eine Meta-Falle, mit fliessenden Übergängen zum Klatsch. 


Es entsteht das Gefühl einer gewissen Enge.

12 Mai, 2013

Kurz vor knapp

Die ARD zeigt heute, Sonntag (12.05.2013) um 23.35 h meinen Film UNTER DIR DIE STADT.

Wiederholungen:
EinsFestival, 13. Mai 2013, 20:15 Uhr
EinsFestival, 13. Mai 2013, 23:35 Uhr
EinsFestival, 18. Mai 2013, 21:45 Uhr

05 Mai, 2013

Studienjahre

Wir würden im Kino erwartet, hatte es geheissen und da sassen wir nun, ein bisschen unschlüssig zwischen geheimnisvoll-tun und „was willst du so machen”-small talk. Dann kam der Präsident, ein völlig leerer Titel, wie wir später erfahren sollten, und nahm uns in Empfang. „Sie haben einen der teuersten Studienplätze Deutschlands”, war einer seiner ersten Sätze, und dass nur „Kampfflieger” aufwändiger ausgebildet würden. Wir sollten uns dieser Investition des Staates, dem „geschenkten Vertrauen”, würdig erweisen. Irgendwie waren wir also Kadetten, dachte ich – und freute mich auf den Krieg.

01 Mai, 2013

Das Gesicht

Ich habe kürzlich ein Buch von Denis Johnson gelesen, TRAIN DREAMS, und hatte 98 Seiten lang wirklich viel Spaß daran. Dann habe ich den hinteren Teil des Umschlags als Einmerker benutzt – und plötzlich stach mir das Portrait des Autors ins Auge, das dummerweise dort abgedruckt ist. Es klingt lächerlich, aber zu wissen wie der Mann aussieht hat meine Lesefreude deutlich gemindert. Nicht weil sein Gesicht in irgendeiner Weise bemerkenswert wäre, aber weil ich nun bei jedem Satz an ihn denken musste, ohne eine Verbindung zum Text herstellen zu können. Das ist vielleicht auch das Problem des Kinos seit der Nouvelle Vague: dass die Regisseure ein Gesicht bekommen haben. Es ist nicht mehr einfach „das Kino”, das spricht.

Konfektion


Die Arbeit der Kritik kommt mir oft wie das Bekleiden eines nackten Körpers vor. Dem Kunstwerk muss in den „Mantel” des Begriffes geholfen werden. Schnitt, Stoff und Farbe der Kleider / Wörter müssen „sitzen”, aber auch Spiel lassen für unverhoffte Bewegungen / Erkenntnisse. Was verhüllt wird, was entblösst, was Andeutung bleibt, was explizit wird, welche Unzulänglichkeiten kaschiert, welche betont werden: all das ist Produkt einer komplexen Vermittlung zwischen „Wesen” und Öffentlichkeit. Wie in der Mode aber ist die Konfektion zur Regel geworden ...

30 April, 2013

Gemischte Gefühle

Mein Weg zum Film war nicht unbedingt vorgezeichnet. Ich bin ohne Fernsehen aufgewachsen, Kinobesuche waren kein üblicher Zeitvertreib, meine vier Geschwister und ich wurden in der Überzeugung erzogen, dass Filme zu sehen Zeitverschwendung, mehr noch: Zeit- „Totschlagen” sei. Es wurden bei uns oft und gerne Geschichten erzählt, es wurde gesungen, am Küchentisch gab es Debatten über Theologie und Politik: Nicht die Fiktion, das „Untote” des Medienkonsums stand im Mittelpunkt der Kritik.

Meine Großmutter war der Meinung, ich sähe dem (ersten) Jungen aus LASSIE (USA 1954 - 72) ähnlich, was ich als Beleidigung empfand. Sein gut gelaunter Gehorsam war mir unerträglich. Aber sie hatte nicht ganz unrecht.
Erst später habe ich erfahren, dass mein Vater, die meiste Zeit seines Lebens Berufschullehrer, zuvor Handwerker in den verschiedensten Feldern, als unglücklicher, sich vom Vater verfolgt fühlender Jugendlicher wieder und wieder im Kino Zuflucht gesucht und gefunden hatte. Aber so sehr ihm damals der Trost des Kinos willkommen war, so sehr verband sich das Medium für ihn mit den Defiziten seines Lebens. Das Kino war ihm eine „Bedürfnisanstalt”, für die er in der Fülle des Lebens, in der er seine Kinder wähnte, keinen Sinn sah.

Lieblingsfilm meiner Großmutter war SISSI „Schicksalsjahre einer Kaiserin” (D 1957). Den Moment, in dem sie die Herzen der Venezianer gewinnt, weil sie kinderlieb ist („Viva la mama.”) – habe ich auch als Gefühlsrausch erlebt. 
Ich hätte ihm damals recht gegeben, wie ich überhaupt unser Anders-sein als eine Art Auszeichnung empfand, eine Einschätzung, die im Pausenhof, schon damals beherrscht von Medienthemen („hast du ... gesehen”), wieder und wieder verteidigt werden musste. Das Gefühl, Opposition zu sein, gehört zu den Konstanten meines Lebens. Nicht, dass nicht auch Leid damit verbunden gewesen wäre, aber alles in allem war ich einverstanden, Beobachter zu sein, nicht „Mitte”.

Nach dem Skifahren sahen sich die großen Geschwister im Ferienhaus WEM DIE STUNDE SCHLÄGT (USA 1943) an. Ich musste vor dem Ende ins Bett. „Stirbt Cary Cooper eigentlich?” frage ich mich heute noch manchmal. Die Erinnerung vergrößert.
Ich war siebzehn, als ich von einem Freund, der mir auf ungesunde Art dem Kino verfallen schien – ganz in der Art der „Bedürfnisanstalt” meines Vaters – in die Filmgeschichte eingeführt wurde, übrigens nicht durch den Seiteneingang der Cinephilie, sondern durchs „Hauptportal” amerikanischen Mainstreams: mein Freund suchte im Kino den Suggestionsrausch, die Ermächtigung, entsprechend war sein Pantheon bevölkert von Cameron, Lucas, Spielberg, Coppola, Lynch. Viele Filme hatte er in seiner für damalige technische Möglichkeiten sehr raffinierten Heimkinoanlage (mit einem Drei-Röhren-Beamer) verfügbar, aber das erschien mir damals als dürftiger Ersatz.

Einmal, ich muss zwölf gewesen sein, nahm mich mein Vater in die Moroder-Version von Fritz Langs METROPOLIS (D 1927 / 1984). Ich glaube, er wollte mir einen „Klassiker” zeigen. Den Schichtwechsel – wie die Arbeiter rhythmisch in den Tunnel ein- bzw ausrücken – werde ich nie vergessen.
Ich habe also alles Verfügbare im Kino gesehen, zunächst in München, nach dem Abitur (1992) dann in Berlin. Allein in der fremden Stadt, „hungrig nach Sinn”, mit einem (vergleichsweise) überwältigend großen Kinoprogramm, gab es wenig konkurrierende Vergnügungen für mich. 

Bei meiner Tante haben wir als Teenager ein paar Mal KNIGHT RIDER (USA 1982-86) gesehen und uns nachher wirklich sehr geschämt. An die Scham erinnere ich mich viel stärker als an das sprechende Auto.
1996 begann ich Film zu studieren, zurück in München, die Ära DVD hatte bereits begonnen. Anders als bei meinen Kommilitonen war meine Kinoliebe ziemlich frisch, das Kino war zum zentralen Ritual meines jungen Lebens geworden. Mein Ernst störte unter Leuten, für die das Medium so alltäglich war wie fliessend Wasser – und denen es eher darum zu gehen schien, „beim Film” zu sein, als Filme zu sehen oder zu machen.

Mit meiner Schwester S. war ich ein halbes Dutzend mal in DIRTY DANCING (USA 1987). Wir haben uns beide mit dem Mädchen identifiziert.
Die stärkste Triebfeder, Filme zu machen, waren nicht so sehr die Filme, die ich gesehen hatte als der Wunsch, Filme zu machen, die es noch nicht gab. Die ich noch sehen wollte. „Ich bin des Hungers wegen Koch geworden.”

Mit meinem älteren Bruder W. war ich bestimmt zehn mal in IM RAUSCH DER TIEFE (F 1988). Damals liefen Erfolgsfilme oft monatelang. Am meisten beeindruckt hat mich, dass das Herz des Helden „unmenschlich langsam” schlägt, wie ein Arzt im Film erstaunt anmerkt.
Meine Eltern haben sich, kaum waren wir Kinder aus dem Haus, einen Fernseher gekauft. Das habe ich als Verrat empfunden, damals.

07 März, 2013

Kurz:

Am 21. März werde ich in Frankfurt (Main) im Rahmen des Festivals „Lichter” mit Max Linz, Jan Wenzel und Jakob Hoffmann (der uns eingeladen hat) über die Frage diskutieren, ob dem Medium Film die Mittel abhanden gekommen sind, Stadt abzubilden.

Vom 11. bis 20. April bin ich auf dem Festival Buenos Aires (BAFICI) Mitglied der Jury für neues argentinisches Kino.

Am 6. + 7. Mai werde ich an der Universität Bamberg über meine Arbeit sprechen.

Bald mehr.

26 Januar, 2013

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Print hat es nicht leicht dieser Tage, lese ich online. Aber auch wenn ich mich im Netz gerne tummle, Papier bleibt konkurrenzlos. Konzentration, Haptik, Badewannentauglichkeit: 100 %. Ein Objekt der wirklichen Welt, das auch ohne Strom noch Geist hat. Und ganz ehrlich: E-Books oder Pay-Wall-Keys sind ziemlich fade Geschenke. 

Revolver wird 15 diesen Juni – und braucht neue Abonnenten. Vielleicht geben Sie sich einen Ruck – der Kostenpunkt bleibt moderat. 13 Euro im Jahr. Zwei Hefte ohne Werbung, ohne Schnickschnack, mit Interviews und Texten, die ihr Leben ändern könnten.

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20 Januar, 2013

Meta

Woher dieses schöne Bild stammt, weiss ich leider nicht mehr.
Alexander Gajic, Journalist mit dem Schwerpunkt Film- und Medienjournalismus, einer der Macher des Kinomagazins Close-Up und Betreiber des blogs real virtuality, hat neun verschiedenen deutschen Filmbloggern (darunter mir) eine Liste mit Fragen geschickt und aus den Antworten „Vier Thesen zur deutschen Filmblogosphäre” destilliert. Die Interviews selbst, darunter mit Fréderic Jaeger (critic.de), Ciprian David (Negativ) und Sidney Schering (Sir Donnerbold), sollen nach und nach ebenfalls online gehen. Gajic, der findet, dass von einer „echten” Filmblogosphäre in Deutschland keine Rede sein könne, wünscht sich vor allem mehr Vernetzung und Solidarität unter den Bloggern, größere Knotenpunkte – die sozusagen die ganze Bandbreite des Themas durchbluten - und eine andere Anerkennung der Tätigkeit...


Update:
Inzwischen sind alle Interviews online.

Severin Auer / Orlindo Frick (Animationsfilme.ch)
Martin Beck (Reihe Sieben)
Wulf Bengsch (Medienjournal)
Sascha Brittner (pewpewpew.de)
Ciprian David (Negativ)
C.H.
Frédéric Jaeger (critic.de)
Gerold Marks (digitaleleinwand.de)
Sidney Schering (Sir Donnerbolds Bagatellen)

04 Januar, 2013

...verlorene Seelen

In Rainer Knepperges schönem Text über die Inspirationsquellen von Martin Scorsese findet sich eine tolle Genre-Definition: 

Mehr als nur ein Stil war der film noir eine Kunstform des Nachkriegs, die Mitleid hat mit Leuten, die ihre Seele verloren haben.”