29 November, 2015

(Wieder-) Gesehen [7]

Valentin Popov, Nikolay Gubenko, Stanislav Lyubshin

ICH BIN ZWANZIG JAHRE ALT (Marlen Khutsiev, UdSSR 1965)

Kann man älter als der eigene Vater werden und doch zu jung sein für den „Ernst des Lebens”? Khutsievs Film über die vaterlose Generation im Tauwetter-Moskau der 60er Jahre erzählt von drei Freunden und wie sich ihre Freundschaft durch Beruf, Ehe, Kinder verändert. Aber er erzählt auch von ihren Müttern und Schwestern, von Filmstudenten und Arbeitern, Kantinen und Universitäten, und sogar die Toten kommen zu Wort. Ein sowjetisches Pendant zu Fellinis I VITELLONI vielleicht, aber ausschweifender, einen größeren Zeitraum in den Blick nehmend, und dabei auch formal waghalsiger. Ein Jahrhundertwerk.


Geir Westby

EDVARD MUNCH (Peter Watkins, Norwegen 1974)

Peter Watkins' Film ist lang und redundant, und das mit voller Absicht. Er arbeitet mit Refrains, will das Gefangensein des Künstlers Munch in seinen Themen – die Allgegenwart des Todes, die Angst vor der Frau, die Unfähigkeit zur Kommunikation – auch im Zuschauer selbst erzeugen. Zu meiner Überraschung steht das einer gefühlsmässigen Beteiligung nicht im Wege. Und noch nie habe ich einen Künstlerfilm gesehen, der den bildnerischen Prozess so ernst genommen hat, in dem das tatsächliche Bemalen der Leinwand, das Schneiden des Holzes etc. so anschaulich und glaubwürdig war. Das gilt auch für die Besetzung: die Laien, die Watkins gefunden hat, haben nicht nur faszinierende Gesichter, sie haben auch die richtigen. Die Ähnlichkeit mit den historischen Personen ist frappierend. So frappierend, dass man Munchs Selbstportraits wirklich für Portraits des Schauspielers Geir Westby zu halten geneigt ist. 


Ildikó Bánsági

BIZALOM (István Szabó, Ungarn 1980)

Ungarn in den letzten Tagen des Krieges. Zwei Fremde spielen Eheleute. Oder besser: die Frau lässt sich auf dieses Spiel ein, weil man ihr sagt, sie habe keine Wahl – aber wem das Spiel nützt, wer es in der Hand hält, bleibt lange offen. Mit anhaltender Dauer der Täuschung jedenfalls verschwimmen die Grenzen: Ohne Vertrauen ist alles Fiktion, aber jede Fiktion, die praktisch wird, beginnt mit der alten Wahrheit zu konkurrieren, verwandelt sich in Wirklichkeit. Der Glaube mag Berge versetzen, aber ist es nicht der Wille zu glauben, der den Berg erst erschafft? Ein neuer Lieblingsfilm.


Elena Rufanova

MOLOKH (Aleksandr Sokurov, Russland 1999)

Der beste Film über Hitler ist die hysterische Komödie eines russischen Esoterikers. Sokurov entstellt das Theater der Macht zu lächerlicher Kenntlichkeit, richtet die Erzählung dabei aber so kippelig ein, dass der Schrecken immer nur einen Schubs entfernt ist. Einer der seltenen Fälle, in dem die Konzentration auf den „privaten” Hitler nicht auf relativistische Abwege führt. Der ungewöhnliche Fall auch, in dem der Abstand zwischen dem deutschen Synchronton – nach originalen Gesprächsprotokollen – und dem (gestisch-artikulativ anders gelagerten) russischen Spiel ästhetisch Sinn macht: die „Fremdsprache der Unmenschlichkeit” wirkt übersprochen noch schärfer. 



BLOKADA (Sergei Loznitsa, Russland 2006)

Eine Elegie über die Blockade von Leningrad. Loznitsa hat die Aufnahmen, die den Niedergang des städtischen Lebens (und damit das Kriegsverbrechen der Deutschen) dokumentieren sollten, mit großer Zurückhaltung aus dem Rahmen offizieller Erinnerung gehoben. Seine Montage interessiert sich für Zustände, für die sich verlangsamenden Rhythmen, die Agonie. Die Neuvertonung des stummen Originalmaterials hat großen Anteil an der Wirkung des Films: für eine Weile erscheinen die Töne realistisch, bis auffällt, dass es keine Stimmen gibt. Die Stadt tönt, die Schlitten und Karren knirschen, aber die Menschen bleiben stumm. Loznitsa organisiert das Material dabei in metaphorischer Folgerichtigkeit (nicht gegen die Chronologie, aber unabhängig von ihr). Wie in den Stationen eines Kreuzwegs sehen wir dem Tod immer direkter ins Gesicht. Das ist mitunter sehr schwer zu ertragen. Es spricht für Loznitsas historisches Bewusstsein, dass er den Film denkbar bitter nicht mit dem Feuerwerk der Befreiung, sondern der Wiederaufnahme der Vollstreckung von Todesurteilen enden lässt, dem blutigen Alltag der Stalinzeit. 

24 November, 2015

Tankred Dorst zum 90. Geburtstag

© Franzi Kreis


Zum ersten Mal in Berührung gekommen bin ich mit seiner Arbeit auf dem Schulweg. Der führte mich täglich am Kleinen Spiel vorbei, einer Marionettenbühne, für die Dorst in seinen Anfängen Stücke geschrieben hat. A TRUMPET FOR NAP habe ich dort gesehen zum Beispiel.

Viel später erst, an der Filmhochschule, habe ich seine Filme entdeckt. MOSCH und vor allem EISENHANS sind damals wichtige Filme für mich geworden. Aber es war sein Debütfilm, KLARAS MUTTER, der mich nicht mehr losgelassen hat. Die Präzision der Charakterzeichnung, seine erzählerische Schärfe und Schönheit machen den Film zu einem kostbaren (und bis heute beinahe unbekannten) Findling der deutschen Filmgeschichte. Ich bin immer noch stolz darauf, dass wir den Film in der Revolver DVD Edition herausbringen konnten.

Zu meinem Glück habe ich Dorst dann im Zuge eines Hochschulprojektes kennengelernt. Bis heute verbindet uns eine Freundschaft, in der Geselligkeit und Debatte ihren Platz haben. Gelegentlich lesen er und Ursula Ehler – seine Schreib- und Lebenspartnerin – Filmentwürfe von mir, und sind viel zu gnädig. Manchmal spiele ich Vermittler zur Gegenwart. Aber das ist nur selten nötig: Wer mit beinahe Neunzig noch einmal die Stadt wechselt, weil in Berlin eben mehr los ist – hat genug Beweglichkeit bewiesen.


Zum 90. Geburtstag – die Anlässlichkeit ist Tankred Dorst zwar immer lästig, aber schön ist es doch – veranstalten die Berliner Festspiele am 6.12.2015 eine Hommage, an der ich auch teilnehmen werde.

Das Interview, das ich und Nicolas Wackerbarth mit Dorst und Ehler 2008 geführt haben (im Rahmen eines Revolver Live an der Berliner Volksbühne), kann man ab sofort hier nachlesen. Erinnern möchte ich auch an Heike Hursts schöne Einführung in Dorsts filmisches Werk, die wir dort (wieder-) veröffentlicht haben.

Lieber Tankred, „wer lebt, der stört”, hast du geschrieben. Sei so lieb und stör uns noch ein bisschen länger. Erzähle weiter, jetzt erst recht. Und bleib gesund. Auf bald und alles Gute,

Christoph


Trauriger Nachtrag: 
Am 1.06.2017 ist Tankred in Berlin gestorben. Er war mir - zusammen mit seiner Frau Ursula Ehler, die ihm in Kunst und Leben symbiotisch verbunden war und der mein ganzes Mitgefühl gilt - ein leuchtendes Vorbild vor allem in der Art, der Welt und den Menschen mit freundlicher Neugier zu begegnen. 

09 November, 2015

DVD



Mein Film DIE LÜGEN DER SIEGER erscheint am 3.12.2015 auf DVD und VoD. Den Audiokommentar habe ich im Oktober zusammen mit Florian David Fitz aufgenommen. Englische Untertitel gibt es auch.

An den Grenzen



Über Werner Herzogs jüngere Arbeiten ist ein neues Buch erschienen, Ergebnis eines Symposiums (2012 ausgerichtet vom Einstein-Forum), an dem ich auch teilgenommen hatte. Mein – ganz kurzer – Redebeitrag findet sich auch in dem Band.

05 November, 2015

50 Lieblingsfilme

Auf meiner Liste: Joseph Loseys MONSIEUR KLEIN (Frankreich 1975).

Heute startet LaCinetek, ein neues Streamingportal, das sich als eine „Kinemathek der Filmemacher” versteht und die „wichtigsten Filme des 20. Jahrhunderts” preiswert zugänglich machen will – vorerst leider nur in Frankreich. Zum Auftakt haben Olivier Assayas, Jacques Audiard, Bertrand Bonello, Bong Joon-ho, Laurent Cantet, Costa-Gavras, Arnaud Desplechin, Jacques Doillon, Pascale Ferran, Christophe Gans, James Gray, Michel Hazanavicius, Jean-Pierre Jeunet, Cedric Klapisch, Hirokazu Kore-Eda, Patricia Mazuy, Luc Moullet, Cristian Mungiu, Lynne Ramsay, Christian Rouaud, Ira Sachs, Céline Sciamma, Bertrand Tavernier, Agnès Varta, Apichatpong Weerasethakul und ich jeweils 50 Filme ausgewählt. Meine Liste findet sich hier


(Zu Ophüls' MADAME DE ... und Antonionis L'ECLISSE habe ich ausserdem einen kleinen Kommentar aufgenommen, den man auch von hier aus ansehen kann)