05 April, 2017

Das Fahrrad

Die Bescheidenheit meiner Großmutter war die Zier, auf die man sie ein Leben lang reduziert hat. Sie muss früh verlernt haben, 'Ich' zu sagen. So blieb ihr langes, über weite Strecken auch entbehrungsreiches Leben unerzählt. Wenn ich sie fragte, wie es war, als die Elektrizität in das kleine Chiemgauer Dorf kam, zum Beispiel - betonte sie stets, dass das, was sie erlebt oder mitangesehen hatte, „nichts Besonderes” gewesen wäre. Zum Erzählen fühlte sie sich nicht ermächtigt. Heute wäre mir womöglich das, was sie nicht sagte, beredt genug. Damals habe ich nach Worten gehungert. Das Wenige was ich über sie weiß, verdanke ich der anekdotischen Überlieferung meiner Mutter. Darunter auch die folgende Geschichte.

Meine Großmutter, von allen Schreinerin genannt, war während des Krieges in einer schwierigen Lage. Ihr Mann war an der Front, die Tischlerei fiel als Einkommensquelle aus. Die Kinder waren klein. Die einzige Möglichkeit, hin und wieder etwas zu verdienen, war die Aufzucht von Gänsen im eigenen Garten sowie Aushilfstätigkeiten auf den umliegenden Höfen. Als Bauerstochter wusste sie sich nützlich zu machen. Weil die Höfe im weiteren Umkreis lagen, war das Fahrrad ihr wertvollster Besitz. 

Gegen Ende des Krieges wurde ihr Mann als verschollen gemeldet. Niemand hat ihn sterben sehen, aber sein Regiment galt als „aufgerieben”. Dennoch: in den Jahren die folgten, bis weit nach Kriegsende, schien eine Rückkehr jederzeit möglich. Viele andere Männer kehrten nach und nach aus der Gefangenschaft zurück. Das Prinzip Hoffnung war nicht zuletzt auch Ehrensache. Und so kam es, dass meine Großmutter ihr eigentlich unentbehrliches Fahrrad am Bahnhof stehen ließ, auf dass der Gatte die 15 oder 20 Kilometer nach Hause nicht zu Fuß würde gehen müssen. Viele Jahre stand das Fahrrad, liebevoll in Stand gehalten, am Bahnhof, in Erwartung. Als die Hoffnung endlich verbraucht war, zehn Jahre nach Kriegsende, hat die Schreinerin ihren Schreiner dann offiziell für tot erklären lassen. 

In der Rückschau, und darin zeigt sich womöglich doch ein Sinn fürs Erzählerische, hat sie das plötzliche Herabfallen eines Bildes von der Wand, ein Porträt ihres Mannes das bis heute einen Sprung hat, als Todesbotschaft gedeutet. Er sei, so lautet die in der Familie übliche Kurzformel, „wahrscheinlich bei Danzig verbrannt”. Aber die Ungewissheit hat nagend einen guten Teil des Lebens meiner Großmutter zu einem Wartesaal gemacht, in dem man nicht Fahrrad fahren konnte.

„Wenn ich Euch Wehe getan habe, verzeiht mir meine Schwäche. Auf Wieder- 
sehen im Jenseits mit der Mutter”
(Auszug aus dem Testament)

Gerade habe ich mit meiner Mutter telefoniert, um die Plotpoints meiner Rekonstruktion oben mit ihrer Erinnerung abzugleichen. Die Unterschiede sind so beträchtlich, dass man von Geschichtsfälschung sprechen müsste, wenn es sich nicht um eine private Angelegenheit handelte.

Es beginnt damit, dass meine Großmutter keine Gänse, sondern Ferkel großzog, paarweise. (Das eine zum Verkauf, das andere zum Verzehr. Geschlachtet hat ein im Haus einquartierter sudetendeutscher Flüchtling.) Der Großvater war im Februar 1945 noch einmal nachhause gekommen, mit einem Auftrag der Wehrmacht in der Tasche, für Tischlerarbeiten. In zwei Wochen wollte er zurück in der Werkstatt sein und mit den Arbeiten beginnen. Er war es, der mit dem Fahrrad zum Bahnhof fuhr und es dort stehen ließ - er wollte ja bald zurück sein. Jedoch er kam nicht und es war auch nicht herauszufinden, wo er war. Die Zeit der Ungewissheit begann. Und ja, das Fahrrad stand weiterhin am Bahnhof und wartete. Wie lange es dort stand, erinnert meine Mutter nicht mehr - wohl eher Monate denn Jahre. Aber sie erzählt, dass sich meine Großmutter bald darauf „ein Damenfahrrad von Miele” kaufte, „ihr ganzer Stolz”. Meine Fahrradpointe geht aber auch deshalb nicht auf, weil der Hof, auf dem meine Großmutter gelegentlich aushalf, der ihrer Schwester war, in unmittelbarer Nachbarschaft. Jedes Weihnachten seien die besten Speisen für meinen Großvater zurückgelegt worden, falls er käme, erinnert sich meine Mutter, die 1945 vier Jahre alt war. Erst 1952 haben Nachforschungen des Roten Kreuzes ergeben, dass der Großvater wahrscheinlich gefallen ist, bei Danzig. Als meine Großmutter ihn dann für tot erklären ließ, wurde sie dafür von der Verwandtschaft harsch kritisiert. Man bezichtigte sie, sich neu verheiraten zu wollen - nach sieben Jahren des Wartens! Aber sie wollte wohl lediglich einen konkreten Ort der Trauer. Sein Grab ist bis heute leer, aber vielleicht haben sich die beiden ja im Jenseits gefunden, wie es ihr Testament so rührend nahelegt. Geheiratet hat sie nie mehr. Ach ja: auch das Bild ist nicht von der Wand gefallen, und hat keinen Sprung. Das ist ein Fragment aus einer anderen Geschichte. 

Interessant, welche Streiche die Erinnerung spielt, zumal wenn es sich nicht um eigene Erlebnisse handelt, und interessant auch, wie Binnenlogik die Tatsachen beugt,

welche Ursache-Wirkungs-Romanzen sozusagen der Vorgang des Erzählens selbst hervorbringt.

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